Wenn Führung beschämt: Wie Organisationen Scham, Angst und Rückzug erzeugen und was du dagegen tun kannst

„Immer will sie was.“
„Der ist so sensibel, da muss man jedes Wort auf die Goldwaage legen.“
„Die hat ja gar keinen Biss - so wird das nie was mit ihr.“

Solche Sätze fallen nicht in der Teeküche. Sie fallen in Führungskreisen. In HR-Besprechungen. In Strategiemeetings. Dort, wo eigentlich gestaltet werden sollte, nicht gelästert. Dort, wo Mitarbeitende auf Resonanz hoffen und stattdessen Beschämung erfahren.

In manchen Organisationen reicht ein einziger Satz, um sich zu disqualifizieren:
„Ich komme gerade an meine Grenze.“

Was dann folgt, ist kein offener Angriff, sondern etwas Subtiles: Abwertung. Lächeln. Lästern. Rückzug. Ausschluss. Wer sich äußert, wird zur Projektionsfläche. Und schnell zur Belastung.

„Wenn sie wieder heult, dreh ich mich um.“
„Will er wieder Anerkennung? Soll er woanders hingehen.“

Diese Sätze höre ich von Menschen, die Verantwortung tragen. Sie sprechen über ihre Mitarbeitenden. Über die, die angeblich „nicht belastbar“ sind. Oder „zu emotional“. Oder einfach unbequem.

Was sie ausblenden: Dass sie selbst das Klima mitgestalten, in dem Rückzug, Angst und Scham entstehen.
 

Was bleibt, wenn Anerkennung fehlt? Die stille Macht von Ärger, Angst und Scham

In Organisationen mit starren Hierarchien oder unsicheren Führungsstrukturen begegnen mir drei Emotionen besonders häufig:
Ärger, wenn Entscheidungen als unfair erlebt werden – etwa bei Gehalt, Anerkennung oder Aufgabenverteilung.
Angst, wenn Kritik nicht willkommen ist, sondern abgestraft wird.
Scham, wenn Menschen spüren: Ich gehöre nicht dazu. Ich bin nicht gut genug. Ich werde klein gemacht.

Gerade Scham bleibt oft unerkannt – weil sie leise wirkt. Sie führt dazu, dass Menschen sich zurückziehen, ihre Meinung nicht mehr sagen, Verantwortung meiden. Und genau das hat Folgen: für die Zusammenarbeit, für die psychische Gesundheit, für die Leistungsfähigkeit.
 

Destruktive Führung: Wie sie entsteht und warum sie so lange übersehen wird

Die Psychologen Zill, Dilba und Schmidt (2019) haben untersucht, wie destruktive Führung wahrgenommen wird und welche langfristigen Wirkungen sie hat. Sie zeichnen folgendes Bild:

Destruktive Führung beginnt nicht erst beim Brüllen oder Beleidigen. Sie beginnt dort, wo Verantwortung verweigert, Dialog verweigert oder Nähe verweigert wird.

Zum Beispiel wenn:
• eine Führungskraft sich aus notwendigen Entscheidungen heraushält
• Kritik systematisch ignoriert wird
• Abwertungen unkommentiert im Raum stehen bleiben

Besonders gefährlich wird es, wenn Führungskräfte persönliche Interessen über das Team stellen oder stark narzisstische, manipulative oder machtorientierte Züge zeigen (die sogenannte „dunkle Triade“ der Persönlichkeit).
 

Was Betroffene tun und warum es oft nicht reicht

Viele Mitarbeitende versuchen, mit solchen Erfahrungen klarzukommen. Sie suchen Rückhalt bei Kolleg:innen, sprechen Dinge direkt an, ziehen sich aus konfliktbeladenen Situationen zurück.

All das sind verständliche Strategien. Doch die Forschung zeigt: Coping hilft nur begrenzt.
Wenn destruktive Führung über längere Zeit erlebt wird, hat das tiefgreifende Auswirkungen. Betroffene grübeln auch nach Feierabend, schlafen schlechter, verlieren den Zugang zu ihren Stärken. Die Studien sprechen hier von Rumination – dem ständigen mentalen Wiederkäuen belastender Erfahrungen. Und genau das ist ein Risikofaktor für Burnout.

Wie sehr schlechte Führung nachwirkt, lässt sich sogar Monate später noch an der Gesundheit der Betroffenen ablesen - oft stärker, als es ihre Bewältigungsstrategien auffangen können.
 

Bossing: Wenn Beschämung System hat

Manche Führungskräfte gehen noch weiter – und nutzen ihre Position gezielt, um andere klein zu machen.

Das nennt man Bossing.

Stephan Rusch (2021) beschreibt in seiner Analyse typische Verhaltensweisen, die Teammitglieder verletzen (sollen):
Bloßstellen in Meetings
Manipulative Kritik, die auf die Person zielt statt auf die Sache
Informationsentzug
Zuweisung gesundheitsschädlicher Aufgaben
Soziale Isolation („Der gehört nicht mehr dazu“)
Missbrauch von Abmahnungen oder Dienstwegen

Was das mit Betroffenen macht, lässt sich kaum überschätzen: Sie verlieren Vertrauen - in sich, in das Team, in die Organisation.

Viele werden krank. Sie internalisieren die Beschämung. Manche kündigen. Und manche arbeiten weiter - innerlich gekündigt. Ein Zustand, der für Arbeitgeber ärgerlich und riskant ist - für die Person führt diese Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses häufig zu weiteren Schamgefühlen.
 

Was Organisationen jetzt tun müssen

Beschämung ist kein Randphänomen.
Sie passiert nicht „aus Versehen“. Sie entsteht dort, wo Strukturen kein Korrektiv mehr bieten. Und sie wirkt besonders stark in Organisationen, die stark von Macht, Status oder Loyalität abhängen.

1. Führung sichtbar und überprüfbar machen
Klare Führungsleitlinien entwickeln - auch zum Umgang mit Kritik, Nähe, Fehlern
360°-Feedback und strukturierte Mitarbeiterbefragungen einsetzen
• Auswahlprozesse, die auf Machtmotive und Führungskompetenzen achten
• Interne Anlaufstellen, die unabhängig Rückmeldung aufnehmen können

2. Psychologische Sicherheit ernst nehmen
• Führungskräfte qualifizieren, damit sie Beschämung erkennen - bei sich und anderen
• Strukturen schaffen, in denen Rückmeldung nicht gefährlich, sondern gewollt ist
• Fehlverhalten konsequent bearbeiten - ohne Demütigung, aber mit Klarheit

Und du? Was du tun kannst (unabhängig von deiner Rolle)
• Sprich es an, wenn du spürst, dass Grenzen überschritten werden
• Beobachte dein eigenes Verhalten - auch kleine Gesten können beschämen
• Schütze Kolleg:innen, die still geworden sind
• Nimm dich selbst ernst, wenn du spürst, dass du innerlich gehst, obwohl du noch da bist
 

Zusammenfassung: Beschämung macht krank und Organisationen blind

Beschämung klingt harmlos. Aber sie ist es nicht.
Sie ist ein Nadelstich ins Selbstwertgefühl – wiederholt, schleichend, oft nicht sichtbar.
Doch irgendwann wirken diese Stiche. Sie verändern, wie Menschen sich erleben. Wie sie arbeiten. Und ob sie bleiben.

Wenn du willst, dass in deinem Unternehmen mehr gesprochen wird, dann fang doch mit dem Thema an, über das keiner sprechen will: Scham.