Stress verstehen und verändern: Das infernalische Quartett als Selbstmanagement-Werkzeug für Führungskräfte

Du funktionierst. Jeden Tag. Meetings, Entscheidungen, Verantwortung – nach außen wirkst du souverän. Aber abends, wenn der Laptop zu ist, bleibt ein dumpfes Gefühl: innere Erschöpfung trotz äußerem Erfolg.

Kommt dir das bekannt vor? Dann bist du nicht allein. Viele Führungskräfte erleben einen paradoxen Zustand: Sie leisten viel, spüren aber kaum noch echte Erholung oder Wirksamkeit.

Was oft übersehen wird: Stress entsteht nicht nur durch äußere Anforderungen, sondern durch innere Muster, die ihn verstärken. Genau hier setzt das Modell des infernalischen Quartetts an – ein praxisnahes Werkzeug aus der Resilienzforschung, das vier typische Stressverstärker benennt und konkrete Wege aufzeigt, wie du dein Selbstmanagement neu ausrichten kannst.
 

Führung und Stress: Ein strukturelles Risiko

Führungskräfte tragen Verantwortung – für Entscheidungen, Mitarbeitende, Ergebnisse. Damit geht fast zwangsläufig ein erhöhtes Stressniveau einher. Studien zeigen, dass Führungskräfte im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger unter chronischem Stress leiden (siehe z. B. Böckelmann et al., 2017) – nicht nur wegen externer Anforderungen, sondern auch aufgrund interner Verstärker.

Ein Modell aus der Stress- und Resilienzforschung bietet hier wertvolle Orientierung: das infernalische Quartett (vgl. Bauer & Jenny, 2007). Es benennt vier psychische Muster, die Stress chronifizieren – und macht sichtbar, wo persönlicher Veränderungsbedarf besteht.
 

Was ist das infernalische Quartett?

Das Modell unterscheidet vier Ebenen, auf denen sich Stress verstärken oder reduzieren kann:

1. Un-Achtsamkeit – mangelnde Selbstwahrnehmung
2. Un-Denkbarkeit – stressverstärkende Denkmuster
3. Un-Möglichkeit – fehlende Handlungsstrategien
4. Un-Erholung – fehlende Regeneration

Diese vier Faktoren greifen ineinander – wie ein Verstärkerkreis. Eine aktuelle Analyse (Beck et al., 2022) zeigt: Je mehr dieser vier „Uns“ ausgeprägt sind, desto höher das Risiko für Überlastung, innere Kündigung und psychosomatische Beschwerden.
 

1. Un-Achtsamkeit: Wenn Selbstwahrnehmung verloren geht

Was passiert:
Führungskräfte sind oft so sehr im Funktionsmodus, dass sie körperliche Warnsignale wie Schlafstörungen, Verspannungen oder Gereiztheit gar nicht mehr bewusst wahrnehmen.

Wissenschaftlicher Hintergrund:
Studien zur interozeptiven Achtsamkeit (Farb et al., 2013) belegen, dass eine reduzierte Selbstwahrnehmung mit erhöhter Stressanfälligkeit und Burnout-Risiko einhergeht.

Praxisbeispiel:
Ein Teamleiter ignoriert wochenlang seine chronische Müdigkeit – bis er beim Meeting mit einem Blackout reagiert. Erst im Coaching erkennt er, dass seine Leistungsbereitschaft seine Warnsignale systematisch überdeckt hat.

Lösungsimpuls:
Regelmäßige Mikropausen mit Check-in: Wie geht es mir gerade körperlich, emotional, mental? Ideal ist ein Ritual – z. B. morgens vor dem PC, mittags und abends.
 

2. Un-Denkbarkeit: Wenn Gedanken Stress erzeugen

Was passiert:
„Ich darf keine Schwäche zeigen“, „Ich muss immer erreichbar sein“, „Wenn ich loslasse, läuft alles aus dem Ruder.“ Solche Glaubenssätze sind in Führungspositionen weit verbreitet – aber selten hinterfragt.

Wissenschaftlicher Hintergrund:
Stressverstärkende Kognitionen („maladaptive beliefs“) gelten in der transaktionalen Stressforschung (Lazarus & Folkman, 1984) als zentrale Verstärker. Sie erzeugen inneren Leistungsdruck.

Praxisbeispiel:
Eine Bereichsleiterin fühlt sich für jedes Problem im Team verantwortlich – obwohl sie ein hochqualifiziertes Team hat. Ihr Gedanke: Nur wenn ich alles kontrolliere, bin ich eine gute Führungskraft.

Lösungsimpuls:
Belastende Gedankenmuster identifizieren, benennen und hinterfragen. Tools wie Journaling, Selbstreflexion oder Coaching unterstützen dabei.
 

3. Un-Möglichkeit: Wenn Handlungsspielräume fehlen

Was passiert:
Manche Situationen erscheinen als unlösbar: Teamkonflikte, Ressourcenknappheit, widersprüchliche Erwartungen. Das Gefühl: Ich kann nichts tun.

Wissenschaftlicher Hintergrund:
Die Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Seligman, 1975) zeigt: Wiederholter Kontrollverlust führt zur inneren Aufgabe. Führungskräfte erleben keine Selbstwirksamkeit mehr – ein zentrales Burnout-Risiko (vgl. Schaufeli & Bakker, 2004).

Praxisbeispiel:
Ein Abteilungsleiter steckt zwischen den Erwartungen von Geschäftsführung und Team – ohne klares Mandat. Nach Monaten der Zerrissenheit resigniert er innerlich.

Lösungsimpuls:
Systematisch nach Einflussmöglichkeiten suchen: Was kann ich ändern? Wen kann ich einbinden? Wo kann ich klare Grenzen setzen? Führungstrainings oder kollegiale Beratung bieten hier praxisnahe Unterstützung.
 

4. Un-Erholung: Wenn Erholung nicht mehr gelingt

Was passiert:
Auch nach Feierabend dreht sich das Gedankenkarussell weiter. Viele Führungskräfte finden keine echte Erholung mehr – stattdessen: Social Media, E-Mails, gedankliches Multitasking.

Wissenschaftlicher Hintergrund:
Die Forschung zur "recovery from work" (Sonnentag & Fritz, 2007) zeigt: Fehlende psychische Loslösung von der Arbeit (Detachment) führt zu chronischer Anspannung, Schlafstörungen und Leistungsabfall.

Praxisbeispiel:
Ein Geschäftsführer nimmt sich jeden Abend vor, früher ins Bett zu gehen. Stattdessen bleibt er bis Mitternacht erreichbar – und wacht um 4 Uhr mit neuen To-dos auf.

Lösungsimpuls:
Bewusst geplante Erholungszeiten mit klaren Übergängen: Bildschirmzeit-Ende, Bewegung, Naturkontakt oder Digital Detox. Entscheidend ist die Qualität der Erholung, nicht nur die Dauer.
 

Fazit: Selbstführung statt Selbstausbeutung

Das infernalische Quartett macht deutlich: Stress ist nicht nur eine Frage der äußeren Anforderungen – sondern vor allem eine Frage der inneren Muster.

Gerade Führungskräfte profitieren davon, ihre Stressverstärker zu erkennen – und proaktiv zu verändern. Denn Selbstführung bedeutet nicht, besser zu funktionieren, sondern klüger mit sich selbst umzugehen.
 

Reflexionsfragen zum Einstieg:

  • Wie achtsam bin ich mit mir selbst im Alltag?
  • Welche Denkmuster stressen mich zusätzlich?
  • Wo habe ich (scheinbar) keine Handlungsmöglichkeiten – und stimmt das wirklich?
  • Wie sieht echte Erholung für mich aus – und wann erlaube ich sie mir?

Wer hier ansetzt, reduziert nicht nur sein eigenes Stresslevel – sondern fördert auch gesunde Führung in der Organisation.
 

Literatur und Studien:

Bauer, G. F. & Jenny, G. J. (2007). Salutogene Organisationsentwicklung.

Böckelmann, I., Seibt, R., et al. (2017). Stressbelastung von Führungskräften.

Farb, N. A. S., et al. (2013). Interoception, mindfulness and affect.

Lazarus, R. S., & Folkman, S. (1984). Stress, Appraisal, and Coping.

Seligman, M. E. P. (1975). Learned helplessness.

Sonnentag, S., & Fritz, C. (2007). The Recovery Experience Questionnaire.
 
 

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